Uri Adelman – „Konzert für Spion und Orchester“, Krimi

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Uri Adelman - Konzert für Spion und Orchester
Eichborn Verlag, 2003

Außer uns beiden war niemand im Chorraum. Bis zum Beginn des Gebets war noch über eine Stunde Zeit. Ossip saß auf der Orgelbank, gelassen wie immer, und griff in die Tasten.
„Wissen Sie, Irina“, begann er ernsthaft, „ich muß dem Schicksal für die Gelegenheit danken, mich mit Ihnen unterhalten zu dürfen. Ich hatte völlig vergessen, wie angenehm es ist, ein intelligentes Gespräch über Musik zu führen.“
„Danke“, sagte ich. „Hoffentlich erfahre ich irgendwann mal, warum das Schicksal ausgerechnet uns zusammengeführt hat.“
Dabei versuchte ich, Ossips Miene zu ergründen. Sicher weiß er mehr als ich, aber sagen wird er kaum etwas.
„Ich mache ein echtes Kompliment, von ganzem Herzen“, sagte Ossip wie zu sich selbst, „und was bekomme ich zur Antwort? Eine gut getarnte Frage.“
Gut, dass ich ihn schon besser kannte, man konnte wirklich meinen, er wäre verletzt.
„So habe ich das nicht gemeint“, sagte ich.
Ossip redete weiter, als hätte er mich nicht gehört. „In diesem Gewerbe stellt man gewisse Fragen nicht. Sie müssen sich damit abfinden, dass Sie nichts erfahren werden. Niemals.“

Das letzte Wort unterstrich er mit einem disharmonischen Akkord.
Ich nickte.
„Besser so“, sprach er weiter, nachdem der Akkord verklungen war, „denn meist ist die Wahrheit viel langweiliger als die Phantasie. Eigentlich immer.“
Er ignorierte mich und spielte etwas Neues. Ein scheinbar zufälliges Sammelsurium von Klängen und Fragmenten aus musikalischen Sätzen, Farbsplittern, ungeordnet und formlos. Aber allmählich nahmen die Klänge Form an, und Ossips anfangs amüsierte und beinahe gleichgültige Miene wurde konzentrierter. Er improvisierte weiter, webte das musikalische Material zu einem farbigen Klangteppich, der den Nuancenreichtum der Orgel in sich vereinte.
Ich hörte ihm zu, anfangs wie eine nachsichtige Mutter einem Kind zuhört, das sein Talent unter Beweis stellen will. Bis ich erkannte, wie er die Originalfassungen in ihre Einzelteile zerlegte, sie erweiterte und die Proportionen der einzelnen Teile veränderte, bis der neue Teil in den energetischen Strom der Improvisation