Ron Leshem: „Feuer“

hintergrund-buch-trans

Was sich am 7. Oktober abgespielt hat, ist ein Menetekel. Es betrifft, noch mehr als die Zukunft des Nahen Ostens, die Zukunft der Welt. Ich blicke zurück auf die ersten Stunden des Massakers, noch bevor die israelische Armee angriff. Die Hamas-Milizen schritten in diesen Stunden kleine Häuser ab, gingen von Tür zu Tür, wie etwa im Mittelalter beim Einfall der Mongolen, um Menschen abzuschlachten und Geiseln zu nehmen, und sie hörten nicht auf, Stunde um Stunde hundertfünfzig Israelis zu töten, und das live zum Mitverfolgen. Noch bevor die israelische Armee reagierte, brachen zwei Tsunamiwellen über die sozialen Netzwerke herein. Die erste Welle bestand aus den Hinrichtungen und der Dokumentation der Gräuel, die zweite propagierte die Angreifer als Freiheitskämpfer; und es war eine akribisch geplante und methodisch ausgeführte Kampagne, zielgerichtet und genau. Sie ergriff sämtliche Zielgruppen, indem sie deren jeweilige wunde Punkte und Gefühlslagen ansprach. Als die Luftangriffe auf Gaza einsetzten, kam ein drittes Genre hinzu, und es verfügte über alle Komponenten, um die Menschen zu bewegen: Die einflussreichsten Berichte aus Gaza an jenem Tag stammten nicht von Journalisten, sondern von digitalen Aktivisten, Story-Tellers, die mit Video-Blogs (Vlogs) ihr Leben aus einem sehr persönlichen Blickwinkel dokumentieren und als Nachrichtenmeldung präsentieren, die ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie gewannen Hunderte Millionen Follower und wurden zur Informationsquelle mit der stärksten Überzeugungskraft. Sie

sorgten dafür, dass ein Narrativ Wurzeln schlagen konnte, wonach Israel versucht, das palästinensische Volk auszulöschen.

Auch ich war gebannt von den immens starken Emotionen, die diese Kanäle übermittelten. Jedoch wird ihr Publikum, im Gegensatz zu dem der BBC, beispielsweise nie erfahren, dass bei Angriffen wie jenem, den sie herzzerreißend und mit überzeugender Detailfülle schilderten – „tausend Tote bei der Bombardierung eines Krankenhauses durch Israel“ –, die tatsächlichen Verantwortlichen und Opferzahlen immer wieder ungeklärt bleiben. Sie unterliegen nun mal keinen ethischen Regeln, Berichte müssen nicht überprüft werden, und niemand merkt es eigens an, wenn Informationen nicht verifiziert wurden. Nie erwähnen sie das Massaker vom 7. Oktober oder wagen es, die Hamas auch nur andeutungsweise zu kritisieren. Denn die Hamas hat in der Vergangenheit nicht gezögert, Journalisten umzubringen. Die Vlogger präsentieren Leichenteile, blutende Babys – das Publikum sieht nur zu gern Ungefiltertes. Einige Dutzend von ihnen wurden im Krieg getötet und hinterließen Follower mit gebrochenen Herzen.

Im Vergleich zu den politisch voreingenommenen Nachrichtenkanälen sind die Vlogger eine um ein Vielfaches unglaubwürdigere Ausprägung des Journalismus.