NIR BARAM: „ERWACHEN“

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An den letzten Sommernachmittagen, bevor Itamar in die Kita zurückkehren wird, gehen sie viel ans Meer. Um fünf Uhr verlassen sie das Haus und bummeln die Bograschow entlang, wechselt wie gewohnt von einem Gehweg auf den anderen; die lichtüberfluteten Strecken und die schattigen sind stets dieselben. Er spricht ständig mit Itamar, der im Buggy sitzt, stellt ihm eine Frage nach der anderen, um seine Stimme auch zu hören, wenn er sein Gesicht nicht sieht.

An der großen Kreuzung überqueren sie die Straße, gehen an einer Steinmauer entlang, eine Treppe hinunter, und da liegt das Meer. Jedes Mal ist es wie eine Offenbarung, und bei dem Anblick wird ihm weit ums Herz. Er wirft Itamar in die Luft und zeigt auf das Meer, fragt sich, ob auch das Kind etwas empfindet.

Manchmal kam es ihm so vor, als ob dort auf dem Sand – mit dem Wind im Gesicht, dem Wasser um seine Füße und Itamar an der Hand – sein Körper und seine Seele durchgelüftet würden, eine Verschnaufpause nähmen von dem drückend heißen Raum, dessen Grenzen sich immer neu um ihn schlossen: Noch nie hatte er sich so sehr als Gefangener seiner Erinnerungen gefühlt wie am Ende dieses Sommers. Und nicht nur der Erinnerungen: Er sah auch Itamar, der heranwuchs, der in einigen Jahren das Interesse an Schira verlieren würde. Gelegentlich meinte Schira amüsiert, sie wisse, das dies

eintreten werde, und er wollte sie warnen, sie lache nur, weil sie es nicht verstehe; so etwas kann man nicht verstehen, bis es einem widerfährt. Dort im Sand erschütterte ihn die Vision, wie der achtjährige Itamar Verrat begehen würde, während der zweijährige Itamar an seiner Hand hüpfte. Er fragte sich, ob es sich wirklich um ein Bild in der Zukunft handelte, denn schließlich war die verrückte Idee vom Verrat eines Kindes an der Mutter auch eine Erinnerung. „Wie nennt man eine Erinnerung, die genau genommen keine
Erinnerung ist?“, fragte er Itamar. Das Kind trat Sand in die Luft, lachte und krähte: „Erinnerung!“
Wenn sie manchmal vom Meer weggingen, kurz bevor es Abend wurde, und er sich verschwitzt und ausgelaugt fühlte, dachte er, dass er nun wohl aussähe wie jener Mann, der die Pflichten seines Lebens schultert, seine Streitigkeiten ausficht und redet, was er muss, sich an seinen Sorgen aufreibt und über seine Rechnungen Buch führt: Der Mann, den Joël mit solcher Verachtung beschrieben hatte und der er zu werden fürchtete – und nun niemals sein würde. Manchmal hatte Jonathan diese Angst geteilt. Aber letztendlich gibt es die, die sich davonmachen und die, die bleiben, und die, die bleiben, haben nicht nur die vor ihnen liegenden Jahre, sondern auch die ganze vergangene Zeit, deren Bilder unvermittelt auftauchen, aus der Tiefe aufsteigen, neu ins Bewusstsein dringen wie ein gegenwärtiges Erlebnis und die Einstellung zu einer ganzen Lebensepoche plötzlich ändern.