Michal Shalev – „Rachel“, Roman

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Kapitel 1

Die Dunkelheit brach langsam herein, und Rachel saß noch immer reglos in ihrem Lehnstuhl. Schon seit Stunden verharrte sie in dem weitläufigen, hohen Zimmer mit den bemalten Fußbodenfliesen und den weißgetünchten Wänden. Sie beobachtete, wie die Strahlen der Nachmittagssonne durch die Jalousien fielen und auf dem polierten Lack der Kommode glänzten. Staub tanzte im hellen Licht auf und ab, während die Sonne stetig weiterwanderte. Allmählich wich das Licht langen, dämmrigen Schatten, bis der Raum schließlich vollkommen im Dunkeln lag.

Aus der Nachbarwohnung klang laut Musik herüber, aber Rachel hörte es kaum. Sie war alt geworden, und in den vergangenen Jahren hatte ihr Gehör nachgelassen. Ihre zerbrechlich wirkende Hand tastete nach dem Schalter der kleinen Tischlampe neben ihr. Sogleich erhellte warmes, gedämpftes Licht das Zimmer. Sie wollte jetzt Wasser für eine Tasse Tee aufsetzen... aber seit einiger Zeit gelang ihr das Aufstehen nicht mehr auf Anhieb. Um Schwung zu holen, beugte sie sich nach vorn und stand dann mit einem Ruck auf.
...

Am nächsten Mittag kam Hadas und brachte Falafel im Fladenbrot mit. Die beiden setzten sich an den Küchentisch, doch Rachel griff plötzlich nach ihrer Hand und hielt sie überraschend fest.

„Kennst du zufällig die Gemälde von Re’uven Rubin und Nachum Guttmann, ihre Bilder von Jaffa und dem kleinen Tel Aviv? Genau wie auf diesen Bildern sah das Land aus, als ich 1925 in Palästina eintraf. Ich war gerade einundzwanzig geworden. Unser Schiff lief langsam in den Hafen von Jaffa ein, links erstreckten sich lange weiße Strände, dahinter standen nur vereinzelt kleine, niedrige Häuser, in den Dünen versteckt, und vor uns ragte die jahrhundertalte, aus hellem Sandstein gemauerte Stadt empor. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien, und auf dem offenen Meer schaukelten die Boote der arabischen Fischer, die ihre Netze ausgeworfen hatten.“