Yiftach Reicher – Atir Die Agentin

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„Wie sie sich kennenlernten und was sie bei der ersten Begegnung sah? Ich werde versuchen, ihre Worte wiederzugeben, aber du weißt ja, wie das Gedächtnis funktioniert. Es wählt selbst aus, was es löscht, was es belässt und was es in entferntere Regionen verbannt. Selbst wenn du dich erinnerst und mit jemandem die Bilder und Worte, die sich dir eingeprägt haben, teilen willst, ertappst du dich – erst recht ich, der sie geliebt hat – beim Erzählen einer anderen Geschichte, als die, die du im Sinn hattest. Ich habe ihre Worte nicht mitgeschnitten und auch nicht notiert. Ich wusste, dass sie das Bild wählen und zeichnen würde, das sie präsentieren wollte. Ihre wahren Gefühle behielt sie für sich, auch wenn sie ein Tagebuch geführt hätte, bestünde Zweifel, ob sie ihre tatsächlichen Gedanken aufgeschrieben hätte. ‚Ich bin ihm, Raschid, in der Schule über den Weg gelaufen‘, sagte sie. Mir fiel auf, dass sie die Bedeutung der Angelegenheit schmälern wollte, als käme so etwas in unserem Beruf nun einmal vor. Als wäre es eine Geringfügigkeit, die man auslassen könnte, wenn man als Agentin im Einsatzland jemandem begegnete und mit ihm ausging. Ihr sprang sofort ins Auge, wie angespannt ich war. Und sie fragte mich: ‚Warum bist du so nervös? Ist es verboten? Ist es gegen die Regeln, mit jemandem Kaffee trinken zu gehen? Darf ich mich mit einem Mann nicht unterhalten? Ist es mir untersagt, mit ihm auszugehen?‘ Was konnte ich zu ihr sagen? Dass ich es nicht wissen wollte? Es ihre Sache war, was sie in der Freizeit anstellte? Dem war nicht so, das wussten wir beide. Ein Agent im Einsatzland hat keine Freizeit.

Es gab nichts, dem keine Bedeutung beigemessen werden konnte. Ich kenne diese Einstellung, die besagt: Ask no questions and hear no lies. Auch wir machten davon Gebrauch, vor allem bei den männlichen Agenten. Uns ist völlig klar, dass sie vögeln, auf diese Weise Erleichterung, Entspannung finden. Aber wir fragen nicht nach. Wir wollen es nicht wissen. Denn sobald du es weißt, musst du etwas unternehmen. Sich um die Prostituierten Gedanken machen, zu denen sie gehen. Sich um den Alkohol Gedanken machen, den sie in sich schütten, wenn sie allein sind. Sich immerzu Gedanken machen. Daher fragen wir nicht nach. Wir wollen nur wissen, wie sie sich fühlen, freuen uns, wenn sie sagen, dass alles seinen Gang geht. Wir warten die turnusmäßigen Ergebnisse vom Lügendetektor-Test ab und verstecken uns dahinter, statt eine Aussprache zu führen. Willst du ein ehrliches Gespräch führen, musst auch du etwas preisgeben. Auch du musst dich zeigen, deinem Agenten eine andere Seite von dir präsentieren: die menschliche. Du musst ihm das Gefühl vermitteln, dass er es mit einem guten Freund zu tun hat. Mit einem, der um ihn besorgt ist. Der sich auf ihn, den Agenten, verlässt und ihm seine persönlichen Geheimnisse anvertraut. Dann redet er. Er redet, weil er Vertrauen hat, weil er weiß, dass du zuhörst. Unter Umständen kritisierst du ihn. Du machst deinen Job als Verbindungsführer, der für die Sicherheit seines Agenten und den Erfolg der Mission verantwortlich ist, doch du bist auch sein Freund. Ich konnte nicht Rachels Freund sein. Das konnte ich einfach nicht.